Im Rahmen des Projekts “Freiwillig am Bauernhof” vom Maschinenring Österreich habe ich diesen Sommer drei Wochen auf einem Bergbauernhof mit 46 Kühen und zwei Bauern verbracht. In dieser Zeit habe ich nicht nur hart gearbeitet, sondern auch viel nachgedacht. Meine Erkenntnisse habe ich in diesem Protokoll mitgeschrieben. Über Kommentare würde ich mich sehr freuen.
8. Juli 2015
~ 11:11 Uhr
Knapp eine Woche auf der Alm und ich habe schon sämtliche Gefühlszustände hinter mir. Die Bauern sind sehr nett zu mir und die Arbeit macht Spaß, aber ich merke, dass ich schlecht Abschalten kann. Es fällt mir schwer mein „altes Leben“ in München hinter mir zu lassen. Nicht machen zu können, was ich will – das ist das Schwierigste. Und: Ich habe niemanden zum Reden – so face-to-face. Ich mache alle Erfahrungen allein. Das ist nicht leicht.
Zum Glück habe ich Musik: Fat Freddys Drop beruhigt mich, wenn ich kurz Panik schiebe. Ja, Panik trifft es wohl am besten: Diese kurzen Anflüge von Zweifel – Warum? Wieso bin ich hier? Das Durchschnittsalter des Bauernhofprojekts beträgt 40. Das typische Alter der Midlife-Chrisis. Warum zur Hölle tue ich mir das gerade jetzt an? Was für die Bauern ganz normal ist, ist für mich Ausnahmezustand. Selbstbestimmtheit sieht anders aus: „Alles für die Kuh“ beschreibt das Leben von Christl und Franz wohl am besten. 36 Jahre lang leben sie auf dem Hof mit an die 100 Kühen. 36 Jahre lang Arbeit im Stall, Heu machen, Gülle ausfahren. 36 Jahre kein Urlaub. Unvorstellbar.
Aber warum nun bin ich hier? Warum suche ich nach dem Unbequemen? Ich habe keine Antwort darauf. Oder doch? Ich vermute, um meine Ängste loszuwerden. Ob es der richtige Weg ist, weiß ich nicht. Ich bin gespannt, was ich nach zwei Wochen Bauernhof schreibe bzw. spüre. Kann man innere Prozesse und Veränderungen spüren?
„Was mich nicht umbringt, macht mich stark.“ Ich nenne es einfach mal Quarter-Life-Chrisis (verspätet oder zu früh?). Was ich jetzt schon weiß: Es gibt nicht das eine „Ich“ nach dem wir immer suchen: „Ich selbst“ – Das sind viele. Ich weiß, dass ich nicht die erste bin, die das einsieht. Aber so klar, wie dieser Tage, war es mir noch nie. Ich möchte mich nicht für ein Leben entscheiden! Genau deswegen gebe ich immer und immer wieder alles auf und sehe Veränderung als Chance. Daher mache ich mich jetzt mal wieder auf die Socken und leide und freue mich so intensiv ich kann, denn das ist Leben.
~ 15:46 Uhr
„Simplicity is the ultimate sophistication.“
Leonardo da Vinci
Danke an Florian Mück.
10. Juli 2015
~ 21:20 Uhr
Dieser Tag fühlt sich so ähnlich an, wie eine Wiedergeburt. Gebt mir sieben Stunden Auslauf und ich sauge mich mit Lebensenergie voll wie ein Schwamm. Wollen wir hoffen, dass ich mich nicht über Nacht wieder auswringe. Heute war ich in Brixlegg, der Kreisstadt von Zimmermoos – „Marktgemeinschaft“ oder wie die das hier nennen. Einen Markt habe ich nicht gesehen, aber dafür jede Menge freundliche Menschen. Jeder auf der Straße sagt hier „Guten Tag“ oder „Griaß di’“. Ob ich auf dem Jakobsweg war, hat mich einer gefragt, als ich das Café „La Baguette“ gesucht habe, um kostenloses WLAN nutzen zu können. Ich so: „Nein, aber ich mache gerade sowas Ähnliches. Ich arbeite auf einem Bauernhof und miste Kühe aus.“ Auf die Frage meinerseits, ob er denn vorhätte den Jakobsweg zu gehen (er war mit einem Rucksack bepackt), sagte er: „Ja, ich erhoffe mir ein paar Antworten.“
Und ja, auch ich suche Antworten – nicht nur hier auf dem Bauernhof. So blöd das klingt: Heute auf dem 10 km Marsch von Brixlegg nach Zimmermoos auf der beschissenen, aber dennoch verdammt schönen Fahrstraße (Welcher Bergwanderer mag schon Fahrstraßen?), sind mir neue implizite Antworten gekommen. (Und ja: Auch mit den Antworten verhält es sich, wie mit der Lebensenergie – aber, wenn ich es schonmal schwarz auf weiß habe, kann ich es zumindest nachlesen, wenn es mir mal wieder schlecht geht.) Mir ist folgendes klar geworden:
„Freiheit bekommt man nicht, Freiheit muss man sich nehmen“
Und das ist hart. Der Satz klingt einfach, aber genau darin liegt die ultimative sophistication (leider passt da keine deutsche Übersetzung so gut, wie dieses Wort). Die Frage aller Fragen: „Was ist Freiheit eigentlich?“ (Es tut mir leid, aber ich habe keine Lust auf eine philosophische Erörterung des Begriffs.) Für mich ist Freiheit „Gehen wohin ich will“ – zu Fuß. That’s it. Wann und wohin ich will.
Jeder muss für sich selbst rausfinden, was ihm wirklich fehlt, was ihn erfüllt. Freiheit ist laut meiner Definition dieses Quäntchen zum Glücksgefühl. Freiheit füllt die Speicher wieder auf. Ich bin mir sicher, wer sich Tag für Tag ausgelaugt fühlt, ist nicht frei. Ich selbst habe dieses Gefühl am eigenen Leib erfahren. Entweder war ich emotional nicht frei, emotional gefesselt, gefesselt an einem perfekten Beziehungsbild – ohne zu wissen, wer ich bin und was ich eigentlich will?! War auch das nicht einfach nur die Suche nach Freiheit? Oder aber: Ich war im Job gefangen, unglücklich, zermürbend gefesselt an den Bürostuhl. Nein! Nie und Nimmer! Es müssen keine Kühe sein, aber ich bin mir sicher, da gibt es noch etwas anderes. Ich weiß noch nicht, was es ist, aber ich bin auf dem richtigen Weg dahin. Das spüre ich. Und zur Not eben doch der Hof von Christl und Franz.
11. Juli
~ 11:02 Uhr
„Wann wirst du dir Zeit nehmen, dich selbst zu finden?“
Dieser Satz aus der lächerlichen Yogi-Tee-Packung klebt über meinem Schreibtisch – Nicht von ungefähr! Ehrlich gesagt, versuche ich mir jeden Tag Zeit zu nehmen für mich und meine Bedürfnisse. Da hätten wir es wieder, mein Lieblingswort. Aber genau das ist es, dieses „Selbst“. Die Antwort auf die Frage, welches Bedürfnis habe ich jetzt gerade? Und genau für die Antwort auf diese Frage benötigt man Zeit, Zeit für sich selbst, Ruhe zum Denken.
Diese Ruhe habe ich im Alltag nicht. Schon die Hektik der Stadt hindert mich daran, klar zu denken. Ständig sind wir damit beschäftigt uns abzulenken, das beste aus dem Tag und aus unserem ganzen Leben rauszuholen. Ist es aber nicht einfach die Ruhe, die wir brauchen um zu sein? (Dieses große Wort lasse ich einfach mal im Raum stehen.)
~17:27 Uhr
Stall erdet. Auf einmal kommt mir mein bisheriges Leben so lächerlich vor und mir wird umso klarer, wie dankbar ich für die Kündigung bin. Endlich:
„Starting to free my mind
from the shadow of doubt
that keeps me in darkness
Testing the air outside
my chamber
into the danger
Pushing my limits high
to the redlight and over it
Why have I waiting for so long?“
Fat Freddy’s Drop
14. Juli
~ 21:31 Uhr
Oder ist es etwa doch besser keine Zeit zum Denken zu haben? So wie heute? Ich bin eigentlich fast zu schwach zum Schreiben. Ich glaube, das sind die Tage, an denen man in Wirklichkeit stärker wird…
15. Juli
~ 22:11 Uhr
Ich hab’s: „Warum ich das alles mache?“
„Ich bekämpfe meine Ängste, Schritt-für-Schritt auf allen Ebenen. Ich brenne sie nieder, wie ein Waldbrand alles niederbrennt. Bis zur Baumgrenze. Und danach? Danach kommt die klare Sicht auf den Berg ohne Gipfel. Und es geht immer weiter nach oben. In meinem Tempo. Schritt-für-Schritt.“
16. Juli
~ 11:33 Uhr
Heute bin ich um 5 Uhr aufgestanden und auf den Gratlspitz gelaufen. Was für eine Wohltat. Von oben betrachtet erscheint mir das Leben von Christl und Franz noch surrealer.
18. Juli
~ 21:37 Uhr
Was ist das? Die innere Sehnsucht, die einen überkommt, wenn man in die Wolken blickt?
Was brauche ich?
- Einen Ort zum Wohlfühlen
- Ein eigenes Bett
- Zeit
- Menschen
- Katzen
- Alles im Griff (… Vielleicht ein Problem? Wie lasse ich die Zügel los?)
20. Juli
~ 10:37 Uhr
Was treibt mich an?
Veränderung | Liebe | Begegnung | Erlösung
Je länger ich hier auf dem Bauernhof bin, desto klarer wird mir, dass ich meinen Körper noch so sehr fordern kann, solange ich meinen Geist nicht unter Kontrolle habe. Ich muss lernen, zu entspannen. Klar hilft mir körperliche Betätigung dabei ungemein. Allerdings will ich es auch schaffen zu entspannen ohne eine Stunde den Berg hoch zu pesen. Körper und Geist sind eins. Nur ich allein muss das Zusammenspiel zwischen meinem Körper und meinem Geist verstehen, akzeptieren und damit leben. Ich vermute dazu reichen ein paar Wochen nicht aus. Ist das der Berg ohne Gipfel?
21. Juli
~ 20:22 Uhr
Der überraschend letzte Abend.
„Wie man genießen kann, wenn man weiß, dass man geht“
Clueso
Alles eine Frage der Einstellung.
yes…. 🙂
Cool Uli. Respekt vor den Bauern, Kühen und Hilfsarbeitern, sowie Respekt und Dank fuer deine Aufarbeitung: Aller Freiheit, Klarsicht und Liebe dehnt sich aus: Ich spüre es- das große Kribbeln 🙂 Gut.
Super! Bin gespant, wie Deine Reise weitergeht.
Frau Holle, welch weisen Worte, die ich zu großen Teilen unterschreiben kann. Nicht alle, sonst wäre ich ja Du. Ich glaube, das so eine Auszeit mir, nein jedem urbanen Arbeitsmenschen gut tun würde. Laufen wir doch alle im Alltag vor irgendetwas weg und haben (absichtlich?) keine Zeit, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Ich mache das zumindest so.
Vielleicht finde ich in den nächsten 2 Wochen ja ein wenig Zeit fürs Nachdenken. Zeit für mich. Zeit, die ich mir nehme. Me, myself and I.
Was ich unterschreibe: Was Du brauchst 😉 Aus diesem Anlass das hier: http://mynoise.net/NoiseMachines/catPurrNoiseGenerator.php Für den Fall, dass kein Stubentiger da ist.
:-*
Liebe Frau Börger, vielen Dank für deinen berührenden Kommentar. Freut mich echt, dass du dich so mit dem Text identifizieren kannst.
Es ist sehr gut, dass du bist wie du bist! Weiter so und lass dich nicht unterkriegen. Berichte mal, wie der Urlaub so war. Und danke für das Schnurren. Haha, das gefällt mir 🙂
:*